Ob Alltagskultur, Architektur, Buchillustration, Heraldik, Namengebung – Tiere sind in der mittelalterlichen Welt omnipräsent, daher genießen Tiere in der mittelalterlichen Literatur in verschiedensten Zusammenhängen besondere Aufmerksamkeit. Ohnehin gelten die Tiere im für das Mittelalter charakteristischen Zeichendenken als Träger einer zweiten (allegorischen) Bedeutung, da sie als Teil der von Gott geschaffenen Natur und über die ihnen von Gott verliehenen Eigenschaften (Proprietäten) auf ihren Schöpfer und die Heilsgeschichte verweisen.
Insofern es dem Menschen in der Hierarchie des Seienden besonders nahe steht, unterscheidet sich das Tier von vergleichbaren Sinnträgern (wie z.B. Pflanzen und Edelsteinen, Zahlen und Farben) grundsätzlich durch seine Fähigkeit, den menschlichen Protagonist(inn)en mittelalterlicher (und nicht nur mittelalterlicher) Literatur als handelnde Figur zur Seite (oder gar – wie in der Tierepik – an ihre Stelle) zu treten. Das Tier ist ein zentraler Schlüssel für das Verständnis mittelalterlicher Literatur.
Um die Darstellung, Bedeutung und Funktion von Tieren in der mittelalterlichen Literatur annähernd vollständig zu beschreiben, bietet sich die Wahl des Lexikonformats an; denn das auf Exemplarität festgelegte Handbuch könnte allenfalls relevante Ausschnitte aus dem gesamten Komplex bereitstellen. Angesichts der Fülle und Vielfalt der Formen und Funktionen literarischer Verwendung von Tieren in nahezu allen Gattungen und der notwendigen europäischen Perspektive, ist diese Aufgabe von einem Einzelnen allein nicht zu leisten. Um einen hohen wissenschaftlichen Standard zu gewährleisten, müssen die einzelnen Artikel bzw. Artikelteile von dafür besonders ausgewiesenen Expert(inn)en verfasst werden.
Es gibt bisher kein Lexikon, das die Darstellung, Bedeutung und Funktion von Tieren in der mittelalterlichen Literatur umfassend, interdisziplinär und mit wissenschaftlichem Anspruch erschließt, obwohl Teilbereiche in einschlägigen Handbüchern und Lexika präsent sind. Neben diesen enzyklopädisch angelegten Werken, die für das geplante Tierlexikon wertvolle Vorarbeit leisten, gibt es eine Fülle von Spezialstudien zum „mittelalterlichen“ Tier, die aufzuarbeiten und zusammenzuführen sich lohnt. Das Tierlexikon kann sich demnach auf eine außerordentlich breite Basis von Forschungsliteratur stützen.
Das hier beschriebene Projekt gehört in den weiteren Kontext der von Friedrich Ohly begründeten ‚Bedeutungsforschung‘. Das Lexikon ist insofern auch eine sinnvolle Ergänzung zum „Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen“, dem „Edelsteinkatalog“ sowie dem geplanten „Farbenlexikon“.
Langfristiges Ziel des Projekts ist also die Zusammenführung des bestehenden Wissens über Tiere in den Literaturen des europäischen Mittelalters in Form eines (elektronischen) Lexikons. Das drittmittelfinanzierte Großprojekt (Laufzeit: voraussichtlich 12 Jahre) entsteht in internationaler und interdisziplinärer Kooperation sowie in enger Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum.